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Linkshändige Jüdin Erzählungen

1998
85 Seiten
22 cm - Kt

 

 

LESEPROBE 2

Dina: Hunger

Dina hat sich mit ihrer Mutter auf einen Kaffee verabredet. Mutter und Tochter treffen sich regelmäßig im Bistro. Dina ist immer noch erstaunt, daß die Mutter sich nach Vaters plötzlichem Tod vor drei Jahren so stark verändert hat. Nicht so, wie sie und ihr Bruder befürchtet hatten. Kein Häufchen Elend war aus ihr geworden, im Gegenteil. Das Fachgeschäft für Hüte und Schirme blühte und bot eine sichere Existenz. Während Lotte sich zu Lebzeiten ihres Mannes geweigert hatte, sich um das Geschäft zu kümmern, war es jetzt zum Mittelpunkt ihres Witwenlebens geworden.

Dina wußte, ohne den Blick zu heben, daß ihre Mutter eben das Lokal betreten hatte. Die festen Schritte einer Frau, die im Heute steht und von ihrer Vergangenheit nichts mehr wissen will. Ihren Geburtsort Dessau und das Lager Theresienstadt hat sie ausgelöscht. Um so willkommener ist ihr die Schweiz, das Land, dessen Paß sie immer mit sich trägt, weil er ihr Sicherheit und Schutz gewährt. Kein Wort mehr über die Vergangenheit, kein Gespräch darüber mit ihren Kindern.

Die Unterhaltung im Bistro dreht sich um Dinas geplante Reise nach Mexiko, um die dafür notwendigen Impfungen und die günstigste Reisezeit. Während sie erzählt, spielt ihre Mutter gedankenverloren, wie immer, mit ihrem roten Schweizer Paß. Täglich muß sie sich davon überzeugen, daß sie ihn auch wirklich besitzt.

Die Mittagszeit ist um. Lotte steht auf und verabschiedet sich von Dina, denn sie hält es mit der Zeit genau. Ihre lebendige Art wirkt sich entsprechend auf ihre Mitarbeiterinnen aus. Auf dem Weg zum Geschäft geht sie noch beim Bäcker vorbei. Der Duft des frischen Brotes zieht sie magisch an. Schon am Morgen gilt ihr erster Besuch dem Bäcker. Die große Auswahl macht es ihr oft schwer, sich zu entscheiden, sie fühlt sich aber in der Wärme des Ladens geborgen. Auch heute kehrt sie wieder mit einer Tüte voll frischer Mittagsbrötchen zu ihren Hüten und Schirmen zurück.

Der Tod des Mannes hat Lottes Leben verändert. Die Tochter hegt den Verdacht, daß die Wesensart ihrer Mutter vom Vater zugedeckt worden war, aber Lotte läßt sich auf solche Diskussionen nicht ein. das Geschäft muß weitergehen. Theaterbesuche, warum denn nicht? Jakob hatte von Theater, Konzerten und Opern keine hohe Meinung. Das lange Stillsitzen unter Menschen war nicht seine Sache.

Mit Frau Adler, einer Bekannten aus früherer Zeit, nimmt Lotte am reichen Kulturleben teil. Jedes Ausgehen endet mit einem Mitternachtsschoppen im Restaurant. Lotte geht danach nie direkt nach Hause, immer führt ihr Weg noch in die Bahnhofsbäckerei, wo sie sich ein Brötchen kauft. Erst dann, die Brottüte fest im Arm, tritt sie den nächtlichen Heimweg an.

Am folgenden Tag ereignet sich ein Unglück: Lotte stürzt im Geschäft. Der Krankenwagen bringt sie ins Spital. Lotte hatte Glück im Unglück, denn der Arzt stellt nur einen Schienbeinbruch ohne Komplikationen fest. Dina wird benachrichtigt. Im Spital findet sie ihre Mutter schon eingegipst vor. Die Tochter verspricht, sofort in ihre Wohnung zu fahren, um die notwendigsten Sachen für den Aufenthalt zu holen.

Sie findet das Gewünschte mühelos. Aber wo steckt bloß Mutters Reisetasche?
Dina öffnet im Flur den alten Schrank. Sie glaubt, nicht richtig zu sehen.

Hunderte von Brötchen und Broten,
säuberlich in Tagesrationen geschnitten,
füllen sämtliche Regale.

 

 

 

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